Sophia Mainka

Zwiespältige Sehnsucht by Ulla Stackmann
Essay, 2018

Befasst man sich mit den Konfigurationen von Sehnsucht in Sophia Mainkas Werk, bietet die Definition von Sucht in Friedrich W. Doucets „Psychoanalytische Begriffe – Vergleichende Textdarstellung Freud – Adler – Jung“ (1972) drei für eine weiterführende Diskussion hilfreiche Aspekte. Denn Sophia Mainkas künstlerische Arbeiten fassen die Sehnsucht als tatsächliche Sucht nach dem Sehnen in all ihren destruktiven und produktiven Momenten. Zunächst nennt Doucet die Lust als Triebfeder der Sucht, die trotz drohender Gefahr oder gar Zerstörung des*r Süchtigen zur zwanghaften Fortführung der Sucht veranlasst. Dabei bleibt es, zweitens, bei einer „Ersatzbefriedigung,“ welche sich lediglich als Supplement eines nie zu erreichenden Endziels entpuppt. Drittens beschreibt Doucet das Denken des*r Süchtigen als „infantiles Paradies Wunschdenken,“ was, vielleicht unerwarteterweise, ein Fingerzeig in Richtung der produktiven, Fantasie anregenden Kräfte hinter der Sucht (nach dem Sehnen) ist (Vgl. Doucet, Friedrich W. Psychoanalytische Begriffe. Vergleichende Textdarstellung Freud – Adler 1 – Jung. München: Wilhelm Heyne Verlag, 1972. S. 154).

Der Rückgriff auf Doucets mittlerweile historisch anmutendes Übersichtswerk mag überraschen, erklärt sich aber dadurch, dass die Entwicklung der Psychoanalyse, wie auch die Sehnsucht in Sophia Mainkas Kunst, mit einem für die Konzeptionalisierung moderner Subjektivität entscheidenden Umbruch eng verbunden ist. Spätestens seit Freuds Dreiteilung der Subjektivität in Ich, Über-Ich und Es erscheint die Einheit von persönlicher Entscheidung und Wahrnehmung ins Wanken geraten. Dabei beschreibt die Psychoanalyse nur einen von vielen gesellschaftlichen Bereichen, der sich mit einer Neufassung des Selbsts in einer von Konsum und zunehmender Individualisierung geprägten Gesellschaft beschäftigt. Mit der Formel „Je est un autre“ hatte Arthur Rimbaud bereits Ende des 19. Jahrhunderts die Entfremdung vom eigenen Selbst ausgedrückt. Auch im Zusammenhang mit dem stark in der deutschsprachigen Kultur und Philosophie verwurzelten Begriffs der Sehnsucht, hier schließt sich der Kreis, trifft man auf eine verloren gegangene Integrität des Selbsts. So beschreibt die Sehnsucht zu allererst den Drang ein ersehntes Abwesendes zu erreichen und das Subjekt, oder Teilbereiche seiner/ihrer selbst, wieder zu vervollständigen. Während aber die romantische Sehnsucht zum Beispiel noch das Streben nach dem Unendlichen meinte, ist die Sehn-Sucht in Sophia Mainkas Werken in den Ängsten und Wünschen einer kapitalistischen Konsumgesellschaft zu verorten. Das perfekte Heim, der ersehnte Idealkörper, die Rückbesinnung auf die Natur und die lebenserfüllende Liebe erscheinen in ihren Installationen als unerfüllbare, sich aus Fernsehen, Internet und Werbung nährende Heilsversprechen. Jedoch sehen sich Betrachter*innen hier nicht einem politisch mahnenden Gestus oder einer endlosen Ironisierung gesellschaftlicher Verhältnisse gegenüber, sondern einer künstlerischen Auseinandersetzung, die die Paradoxität solcher Sehnsüchte reflektiert. Die Rauminstallation „cure for wellness“ beispielsweise nimmt den Sehnsuchtsort Bad in all seinen Widersprüchlichkeiten in den Blick. Während sich die Frau in der Werbung dank des richtigen Rasierers in eine Liebesgöttin verwandelt, verschweigt dieses Bild doch die Körperflüssigkeiten, intimen Handlungen und die vermeintliche Scham im Laufe der täglichen Hygiene. Diesen Zwiespalt führt „cure for wellness“ vor Augen, wenn die Rauminstallation formal die Präsentationstechniken von Einrichtungshäusern aufgreift, gleichzeitig jedoch entpuppt sich, bei näherem Hinsehen, der perfekte Schein als Illusion: Verklebte Haare auf den Fliesen, Marmor-Imitat und schmutzige Böden entlarven den Traum von Wellness und Erholung als Fiktion. Dennoch bewahren sich Sophia Mainkas Installationen die spielerische Lust, die die ewig schmachtende Sehnsucht nach dem Ideal hervorruft. So hängt die Protagonistin der Video-Installation „Hier gibt es viele, die dich weinen“ ihr gesamtes Lebensglück an die Liebe zur Traube und vollzieht das Sehnen nach dem integren Selbsts auf durchaus kreative Weise. Hinter ihrer Obsession steckt nicht eine reine Objektophilie, sondern das Experiment, sich in Abhängigkeit eines einzigen, ersehnten Objekts zu begeben: Die Frau, der wir im Video begegnen, findet in der Traube Lebenspartnerin, Freundin, Lust- und Identifikationsobjekt. Sie trinkt mit ihr Tee, reibt sich an einem traubenfarbenen Container, leckt lustvoll an einer Traubenabbildung in der U-Bahn, formt selbst aus Trauben einen phallischen Körper und geht als Traube verkleidet ins Fitnessstudio. Zeit für das Sozialleben außerhalb dieses Kosmos bleibt dabei, wie die Betrachter*innen erfahren, nicht mehr. Das eigene Leben geht in der Imagination auf.

Die vorliegende Rauminstallation „Train and Gain“ handelt von der Entfremdung vom eigenen Körper und dem Bedürfnis, wieder in Kontakt mit dem Selbst und der Natur zu kommen. Anders als die beiden zuvor besprochenen Installationen offenbart sich hier stärker das Machtgefälle zwischen dem Subjekt und der Konsumgesellschaft, die Sehnsüchte evoziert. Betreten die Besucher*innen die in zwei Räume unterteilte Mixed-Media-Installation, werden sie zunächst mit fünf im Raum verteilten Objekten konfrontiert. Als erstes passieren sie eine von der Decke hängende Boje mit fühlerartigen Fortsätzen, die versetzt zu zwei großen, aus verschiedenen Stoffen gefertigten Objekten positioniert ist. Ein ähnliches, wesentlich kleineres Stoffobjekt an der Wand sowie zwei herabhängende Plastikgurte komplettieren den ersten Raum. Die stark formal gewichtete Komposition strahlt, unterstützt durch ihre karge Klarheit, Kühle aus. Dieser Eindruck wird durch die warmen Braun- und Blautöne der Objekte, wie auch durch die weiche Textur der teilweise verwendeten Fell-Imitate gebrochen. Zusätzlich fallen bei näherer Betrachtung unsaubere Nähte sowie Auswölbungen an den Objekten auf. Ähnlich wie bei „cure for wellness“, arbeitet „Train and Gain“ mit einer oberflächlich makellos inszenierten Ästhetik, die sich auf den zweiten Blick als Trugschluss und in sich zwiespältig herausstellt. Das lustvolle Verlangen der Sehnsucht, das zwangsläufig in Enttäuschung mündet, wiederholt sich auf formaler Ebene.

Wenn die Betrachter*innen in den darauffolgenden Raum gelangen, rückt das zentrale, im Titel bereits angedeuteten Motiv der Installation stärker in den Vordergrund. Auffällig sind zunächst verschiedene Metallobjekte, die stellenweise mit Schaumstoff-Applikaturen, wie man sie von Fitnessgeräten kennt, bestückt sind. Auf dem Boden zwischen diesen Objekten sind jeweils links vorne im Raum und rechts dahinter versetzt Styrodur-Platten ausgelegt. Auf diesen Plattformen finden die Betrachter*innen Bojen vor, die das Objekt aus dem ersten Raum wiederholen. Durch den Schaumstoff erinnern die Metallobjekte stark an die Ästhetik von Fitnessgeräten. Aufgerufen wird hier die Sehnsucht nach der körperlichen Betätigung, die, so lässt sich ergänzen, zum Fetisch einer kapitalisierten Gesellschaft geworden ist. Denn wer sich gehen lässt, passt nicht zu einer auf Leistung ausgerichteten Gesellschaft. Fernsehen, Film und Werbung kreieren das Bild des optimierten, lasterfreien Lebens, zu dessen Erreichen der Gang ins Fitnessstudio, die regelmäßige Yoga-Stunde oder der Waldlauf am Wochenende selbstverständlich dazu gehören. Die Metallobjekte der Installation führen die Fitnessstudio-Ästhetik ad absurdum, führen sie doch in ihrer offensichtlichen Zwecklosigkeit vor Augen, welche eigentümlichen Auswüchse die Fitness-Industrie angenommen hat. Ressourcen und Mühen werden aufgewendet, um futuristisch anmutende Optimierungsmaschinen zu entwerfen, deren Zweck allein das Training eines bestimmten Körperteils ist. Gleichzeitig lassen die Metallobjekte die Assoziation mit Gattern, wie sie auf Weiden Verwendung finden, zu. In Verbindung mit den zu Tieren stilisierten Bojen ruft die Installation damit auch Sehnsüchte nach Natur und Natürlichkeit auf. Die Betätigung in der Natur und der Umgang mit Tieren sollen das von seiner Umwelt entfremdete moderne Subjekt mit einer verloren gegangenen Ursprünglichkeit wieder in Kontakt bringen. „Back to the roots,“ lautet das Credo. Im Kontext dessen suggerieren Urlaube auf dem Land, die richtige Ernährung und traditionelle Lebensweisen eine Exit-Strategie zurück zur Naturverbundenheit. Ebenso wie die tierähnlichen Bojen sind diese Naturerlebnisse illusionär. Denn in einer konsumorientierten Gesellschaft gerinnt die scheinbar ursprüngliche Natur zur Ware. Durch ihre zwischen Klarheit und Gebrochenheit changierende Ästhetik wird die Installation „Train and Gain“ damit zur Chiffre für die Diskurse, die uns unsere Sehnsüchte aufoktroyieren. Der Installationstitel ironisiert dies, denn der Gewinn für das Subjekt bleibt fraglich, trotz der wohlklingenden, gereimten Werbeformel. Auf ihre Weise umschreiben alle drei Installationen – „cure for wellness“, „Hier gibt es viele, die dich weinen“ und „Train and Gain“ – Konfigurationen der Sehnsucht, wie sie uns im Alltag begegnen. Vom Gefühl der Unvollkommenheit des Selbsts über das Sehnen nach dem auserkorenen Lustobjekt bis hin zur unweigerlichen Enttäuschung der Sehnsucht. Gemein ist den Arbeiten, dass sie den Zwiespalt der Sehnsucht umspielen. Das Sehnen als Quelle der Inspiration und Lust, aber auch der Qual und Gefahr, wenn sie überhandnimmt. Eines bleibt zudem sicher, entziehen kann sich niemand, nur der Umgang mit den Sehnsüchten bleibt offen. Denn genauso wenig, wie sie Geschöpfe rationaler Entscheidungen sind, besteht die Notwendigkeit, ihnen bedingungslos zu unterliegen. Darin liegt ihr Reiz.

Wenn ein Text einmal fertig und korrigiert ist, erhalte ich selten Gelegenheit, ihn im Nachhinein zu kommentieren. Vor allem, wenn ein Text vor so langer Zeit, wie der oben stehende, verfasst wurde, ist das Lesen fast wie eine Begegnung mit einem alten Ich. Passenderweise berührt das auch einige der Thesen, die ich vor mehr als drei Jahren in dieser Auseinandersetzung mit Sophias Arbeit „Train and Gain“ aufstellte. Die Verschriftlichung der eigenen Gedanken ist ja sozusagen wie eine Häutung des Selbst und zurück bleibt eine Hülle, die man manchmal gerne und oft weniger gerne wieder überstreift. In diesem Fall tue ich das gerne, weil der Text auch Zeugnis der Verstrickungen von Begegnungen, Gesprächen, Themen und Kontexten einer bestimmten Zeit ist. Als Sophia mich, zum Beispiel, bat, etwas über „Train und Gain“ zu schreiben, waren wir mittendrin in Diskussionen über Selbstoptimierung, Konsum und Kapitalismus. Andere Dinge, die weniger im Inhalt stecken, sind natürlich ebenso präsent: Ein Zeichentag in der Glyptothek, lange Abende bei Freund*innen, ein Aufenthalt in Venedig und tatsächlich hat Sophia zu diesem Zeitpunkt mit dem Pole Dance begonnen. Heute gehen die Diskussionen weiter, teilweise mit anderen Themen, oft mit anderen Perspektiven, aber eigentlich, und darum kann der Text vielleicht hier noch so stehen, ist vieles beim Alten geblieben. (Coda: Blick zurück)